Freude in der Form
Oder wenn einem alles zu viel wird im Yoga
Fuß gerade, Becken kippen, Steißbein nach unten, Rücken lang, Arm aufdrehen, eindrehen, rumdrehen und noch mehr drehen… immer wieder geht es im Yoga um die Form, um die perfekte Ausrichtung der Haltung und immer wieder um deren Verfeinerung.
Am Ende meiner Ausbildung bei Mark Stephens konnte ich für ein paar Tage (ja, eine echte Yoga-Krise!) die Form nicht mehr ertragen. Raus wollte ich aus der Form, nicht mehr hören in welche Richtung ich meinen Arm oder mein Bein zu drehen hatte. Einfach nur sein, mein Bein so halten, wie ich wollte, in Ruhe gelassen werden.
Meine Yoga-Matte lag ganze zwei Tage in der Ecke! Ein paar Tage später bin ich wieder in die Form gegangen und hinterfragte nach 25 Jahren Yoga-Praxis irgendwie anders, was ich da eigentlich tue. Vor allem warum letztendlich, es mir nie überdrüssig wird, obwohl ich zum hundertsten, wenn nicht sogar tausendsten Mal höre, wie ich was zu drehen, zu öffnen oder auszurichten habe.
Und hier mein Geständnis: Ich finde es spannend meine Füße zu spüren, meine Arme, meine Beine, meine Wirbelsäule, jeden Tag aufs Neue! Doch das hat nichts mit Narzissmus zu tun, es geht mir vielmehr darum, meine Achtsamkeit zu trainieren, meine Neugierde zu bewahren und mich mit jeder weiteren Yoga-Praxis einige Zentimeter oder gar Millimeter weiter zu dehnen.
Die Form ist nur Mittel zum Zweck, um den Geist zu erreichen: ihn wach und neugierig zu halten, präsent für das Hier und Jetzt. Zu erkunden, was im Inneren vor sich geht, wie unser innerer Dialog in den Yoga-Haltungen ist. „Stiram Sukham Asamam“ ist wohl das meist zitierte Yoga-Sutra von Patanjali, übersetzt mit „Stabilität und Leichtigkeit“. Der indische Grammatiker hat vor zweitausend Jahren aber gar nicht die körperlichen Asanas gemeint, die wir heute kennen. Er bezog sich auf das Sitzen (Asana = Sitzen) und den Geist. Dennoch sind seine Schriften sehr hilfreich bei der heutigen Yoga-Praxis, denn es geht im Grunde genommen nur um den Geist. Der Körper ist Mittel zum Zweck, um den Geist zu erreichen.
Leichtigkeit ist hier das Zauberwort. Was nützt es uns, verkrampft in der Form, in der Haltung zu sein? „Entspannen in der Anspannung“, dieses Mantra habe ich noch im Ohr von meiner Hamburger Kundalini Yogalehrerin Simran Kaur. Auch wenn wir außen um uns herum die Dinge nicht verändern können, unsere innere Haltung können wir bestimmen. Die Form, die Yoga-Haltung kann manchmal mega anstrengend sein, doch ein inneres Lächeln macht es sofort leichter.
Stabil, geerdet sein, auch das können wir in der Form lernen, durch unsere Füße. Und mit beiden Füßen fest im Leben zu stehen, ist ja auch nicht ganz verkehrt.
„Vairagya“ ist ein weiteres Konzept, das man bei Patanjali findet. Es bedeutet, nicht verhaftet an Ergebnissen zu sein. Es geht also nicht um die Form als Form an sich, sondern um den Umgang mit der Form, sie so gut auszuführen, wie es eben möglich ist. Und das immer wieder auf Neue, was mit „Abhyasa“ beschrieben wird, dem kontinuierlichen Praktizieren.
Doch das Wichtigste, was sich mir in der Form offenbart, ist es, mir meine Neugierde zu bewahren. Es immer wieder spannend zu finden, was ich da mache. Wie sich mein Fuß heute anfühlt, wie mein Atem fließt. In einem Buch von Mark Stephens habe ich gelesen, dass man versuchen soll, sich von innen heraus nach außen zu spüren, nicht nur die oberen Muskeln aktivieren, sondern auch die tieferen Muskelschichten nutzen. Seitdem ich das gelesen habe, probiere ich es und entdecke wieder einmal neue Facetten in der Form.
Sich eine gewisse Offenheit bewahren und Neues ausprobieren, sollten wir als Yoga-Praktizierende kultivieren. Ein Asana auch mal anders als gewohnt ausführen, wenn es eine neue Anleitung gibt. Herausfinden, was es zu entdecken gibt. Den Atem mal statt in die Füße in die Arme lenken.
All das lässt eine Yoga-Praxis, die Form, spannend und lebendig sein und bleiben. Und genau so können wir auch unser Leben gestalten, mit dieser Neugierde. Im Hier und Jetzt sein, Gewohntes immer wieder neu entdecken.
Und beim Nächsten „Fuß gerade, Becken kippen, Steißbein nach unten, Rücken lang, …“ einfach nur wissend lächeln und aufmerksam und freudig hin